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Polizei: Schlägertruppe oder Menschenrechtsorganisation?

Am 1.Mai 2021 waren in Wien mehr als zwanzig Versammlungen angemeldet. Zusätzlich wurde, so die Pressesprecherin der Wiener Polizei Barbara Gass, in Sozialen Medien „stark zu nicht angezeigten Versammlungen aufgerufen“. Dies habe ein Großaufgebot der Einsatzkräfte notwendig gemacht. Nachdem ein Demonstrationszug aus Ottakring den Sigmund-Freud-Park erreicht hatte, habe man einschreiten müssen. Die Bilanz des Tages aus Sicht der Behörde: Zwölf Festnahmen, über 450 Anzeigen und sieben verletzte Polizisten. Sprecher der ÖH Akademie der bildenden Künste Wien und Vertreter_innen dreier politischer Parteien kritisieren unverhältnismäßige Polizeigewalt und strukturelle Defizite. Zwei parlamentarische Anfragen wurden eingebracht. Mehrere Maßnahmenbeschwerden werden vorbereitet.

Von Roman Dietinger

Eskalation der Gewalt

Laut der Pressesprecherin der Wiener Polizei hatten einige Demoteilnehmer versucht am Baugerüst der Votivkirche Transparente aufzuhängen, was die Polizei unterbunden habe. In weiterer Folge sei es zu „Aggressionen und gewaltsamen Attacken gegenüber Polizisten gekommen“, woraufhin Pfefferspray eingesetzt worden war.

„Nachdem Studierende ein Transparent auf dem Gerüst der Votivkirche hissten, eskalierte die Polizei die Situation. Es kam zu massivem Gewalteinsatz, Verfolgungsjagden, Verhaftungen und Pfeffersprayeinsatz, auch gegen Journalist:innen.“ #w0105  Presse Service Wien

Zu den Vorfällen im Votivpark bzw. Sigmund-Freud-Park gibt es ein Video der „Einsatzdoku Wien“. Die etwas mehr als sechsminütige Aufnahme zeigt nach einem kurzen Vorspann Einsatzkräfte, die sich in großer Zahl den friedlich wirkenden Teinehmer_innen der Kundgebung nähern. Aus der Menge hört man „Lasst sie frei!“- Rufe.

In weiterer Folge wird die Vorgehensweise der Exekutive aggressiver. Teilnehmer_innen der Demonstration werden gestoßen. Hektik und Gewaltanwendung seitens der Exekutive nehmen zu. Menschen werden von den Beamten zu Boden gestoßen. Demonstrant_innen versuchen offensichtlich auf die vordringenden Einsatzkräfte mäßigend einzuwirken. Trotzdem schaukelt sich die Situation zunehmend auf. Die Polizei schreitet weiter vor und treibt die Demonstrant_innen zurück – die  Pfefferspraydosen drohend auf sie gerichtet.

Ein Anzeichen von Deeskalation seitens der Polizei ist nicht erkennbar. Anschließend sieht man laufende Polizist_innen mit Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnet. Ein Mensch in Zivil liegt am Boden und wird offensichtlich von der Polizei fixiert. Ein weiterer Mensch wird von der Polizei auf den Boden gedrückt. Man hört Schreie. In der nächsten Sequenz wird ein junger Mann abgeführt und immer wieder schütteln die Polizisten kampfbereit die Pfefferspraydosen. Über die Demo-Lautsprecheranlage wird die Exekutive aufgefordert sich von der Kundgebung zurück zu ziehen.

„Es hat ein kompletter Wertewandel stattgefunden. Wir sehen uns als Dienstleister, der Sicherheit und Unterstützung anbietet. Dadurch, dass wir seit 2009 pro Jahr rund 450 Neuaufnahmen haben, wird ein kompletter Generationswechsel vollzogen. Und in der Ausbildung haben mittlerweile Menschenrechte den höchsten Stellenwert. Deswegen glaube ich auch, dass wir in Wien die Menschenrechtsorganisation Nummer eins sind. Wir haben tagtäglich mit Grund- und Menschenrechten zu tun, müssen Sicherheit gewährleisten und Hilfsbedürftigen helfen. Und diejenigen, die sich danebenbenehmen, werden dingfest gemacht, ohne dabei ihre Würde zu verlieren.“ Polizeipräsident Gerhard Pürstl im Interview mit der Wiener Zeitung, am 30.05.2014

Die im Video dokumentierte Gewalt geht von der Polizei aus. „Glasflaschen und Dosen“, die auf die Exekutive geworfen werden, sind darin nicht zu sehen. „Gewaltsame Übergriffe“ gegen die Polizei sind im Video eben so wenig zu erkennen, wie die angeblich „massiven Aggressionshandlungen“, mit der die Eskalation seitens der Exekutive begründet wird.  Dass im Rahmen des Einsatzes sieben Polizisten verletzt wurden, kann dem Video nicht entnommen werden. Selbstverletzungen bzw. Unfälle können bei dem martialischen Auftreten der Polizei nicht ausgeschlossen werden. Allerdings zeigen andere Aufnahmen (hier und hier), dass Gegenstände, wahrscheinlich Flaschen, in Richtung Polizei geworfen wurden.

In einem Video von „Blaulicht Wien“ kann man sich einen Eindruck vom Menschenrechtsverständnis Gerhard Pürstls und dem behaupteten kompletten Wertewandel bei der Polizei machen. Augenscheinlich wird auch in Richtung des Kamera führenden Menschen mit Pfefferspray gesprüht (6:27 Min). Michael Bonvalot berichtet, dass ein Kundgebungs-Teilnehmer nach der 1. Mai-Demo über 60 Stunden in Haft gewesen sein soll. Es „könnten noch mehr Personen in Gewahrsam sein“.

Eine Anfrage im Rahmen der Recherche, ob die Polizei entsprechendes Videomaterial, welches „Aggressionen und gewaltsame Attacken gegenüber Polizisten“ belegen würde, besitze und ob man dieses einsehen könne, beantwortete Abteilungsinspektor Marco Jammer, Pressesprecher der Polizei Wien wie folgt: „Das aufgezeichnete Bild/Videomaterial dient der Verfolgung von straf/verwaltungsrechtlichen Übertretung und ist nicht zur Einsicht für Dritte geeignet.“ Es bleibt also spannend, ob die Polizei tatsächlich nachweisen kann, dass der Einsatz verhältnismäßig gewesen ist. Das zugängliche Bildmaterial kann das nicht bestätigen. Innenminister Nehammer hat nun zwei Monate Zeit die parlamentarischen Anfragen zu beantworten.

Kronen Zeitung: „Da war eine Handvoll Demonstranten im Park, drum herum viele Familien und Kinder. Konnte die Polizei die Situation nicht anders in den Griff bekommen? Stichwort Deeskalation.“ 
Polizeipräsident Pürstl: „Das wird falsch dargestellt. Fakt ist, dass Demonstranten der Antifa grundlos Polizisten attackiert haben und daraus ein polizeilicher Zwang folgen musste, um Kollegen zu schützen. Man kann nicht Polizisten attackieren, dann eine Täter-Opfer-Umkehr machen und die Polizei der Eskalation beschuldigen.“ 
Kronen Zeitung: „Die Videos in sozialen Medien sind sehr eindeutig.“
Polizeipräsident Pürstl: „Wir kennen das aus sozialen Medien, dass nur die Reaktion, die auf eine Aktion erfolgte, gezeigt wird.“ […]
Kronen Zeitung: „Muss das Demo-Gesetz geändert werden?“
Polizeipräsident Pürstl: „Bei Gesetzen, die schon so alt sind, sollte man über eine Modernisierung nachdenken und nach der Pandemie eine Expertengruppe zusammensetzen.
Kronen Zeitung: „Was wäre denn möglich?“
Pürstl: „Eine Möglichkeit wäre, Platzverbote im Versammlungswesen zu installieren, so wie man sie im Sicherheitspolizeigesetz kennt.“
Polizeipräsident Pürstl in der Kronen Zeitung am 13.05.2021

Ein Video auf ö24 zeigt Polizisten beim Einsatz von Pfefferspray und Szenen, die an Menschenjagd erinnern. Wen und warum Polizisten hier attackieren, geht daraus nicht hervor. Menschen rufen: „Lasst sie frei!“.

„Die Unkultur nicht Verantwortung zu übernehmen steht mir schon bis da her.“ – Nurten Yilmaz, Nationalratsabgeordnete der SPÖ bei der Pressekonferenz am 10.05.2021

Parlamentarische Anfragen und Kritik an strukturellen Defiziten

Am 10.05.2021 kritisierten Lars Kollros (ÖH Akademie der bildenden Künste Wien) und Anmelder der Demonstration, Nurten Yilmaz (SPÖ), Abgeordnete zum Nationalrat, Lena Köhler (Grüne), stellvertretende Bezirksvorsteherin im 8. Bezirk und Angelika Adensamer (Links), Sprecher_innenteam Links den Polizeieinsatz im Rahmen einer Pressekonferenz.

Willi Hejda (ÖH Akademie der bildenden Künste Wien) übernahm die Moderation und schilderte in einem einleitenden Statement seine Wahrnehmungen der Geschehnisse. Er betonte die Eskalation seitens der Polizei, die Personen, auch aus dem „Pressekontext“, behindert habe die Geschehnisse zu dokumentieren, indem sie diese mit Pfefferspray und Schlagstöcken angegriffen habe. Auch er selbst sei von der Polizei in eine Dornenhecke „geschubst“ und danach geschlagen worden.

„Die Kärnter Einheiten sind sichtlich überfordert. Sie prügeln sich den Weg frei, werfen Leute in ein Gebüsch oder zu Boden. Die Wiener EE kommt zur Hilfe. Beamte beschimpfen die Demo lt Betroffenen als scheiß Zecken, einzelne als Wichser, Arschloch etc.“-  Antifa-Prinzessin auf twitter

“Defund the police!”

Lars Kollross
Lars Kollross, ÖH Akademie der bildenden Künste Wien (Foto: Roman Dietinger)

Lars Kollros führte aus, dass die Demonstration vom Einsatzleiter der Polizei, der „die ganze Zeit ohne Maske rumgelaufen“ sei, bereits zu Beginn „in ein gewalttätiges Eck gestellt“ worden sei. Dieser hätte gefragt, ob die Demonstrant_innen „wirklich vor hätten Steine zu werfen – es wäre ja ein großer schwarzer Block angekündigt?“. Die Frage von Kollros, wie der Beamte darauf käme, wäre ihm nicht beantwortet worden. Bei den Vorgesprächen einige Tage davor wäre davon keine Rede gewesen. Die Polizei hätte, wenn sie entsprechende Informationen dazu gehabt hätte, mit den Veranstaltern darüber reden müssen, so Kollros.

 

Aufgrund von „Meldungen über polizeiliches Chaos“ unweit der Abschlusskundgebung im Sigmund-Freud-Park habe man sich zunächst veranlasst gesehen die Redebeiträge zu unterbrechen. Zur Einsatzlage habe er von der Exekutive keine Auskünfte erhalten, sei aber von verschiedenen scheinbar leitenden Polizeibeamten aufgefordert worden die Kundgebung aufgrund der Polizeimaßnahmen, die „neben“ der Kundgebung stattfanden, aufzulösen. Dies habe er verweigert. Eine direkte Rückkehr zum Kundgebungsgelände seien ihm und weiteren Kundgebungsteilnehmer_innen verweigert worden.

Seiner Wahrnehmung nach haben zu diesem Zeitpunkt im Sigmund-Freud-Park viele Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, entspannt auf die Fortsetzung der Abschlusskundgebung gewartet. Jedoch habe die Polizei begonnen den Versammlungsort zu stürmen. Durchsagen seitens der Polizei oder Rücksprache mit ihm als Versammlungsleiter habe es dabei nicht gegeben. Auch sei die Versammlung von der Polizei nicht aufgelöst worden. Er habe einzelne Gruppen von fünf bis zehn Polizeibeamt_innen beobachtet, „die dann Jagd auf einzelne Menschen gemacht haben“. Dabei seien Menschen, die im Wege gestanden seien, einfach von der Polizei zu Boden geschubst worden. Im Park sei Panik ausgebrochen.

„Ein Mann schreit während seiner Festnahme furchtbar. Es wirkt, als wäre er verletzt. Er wird dennoch in einen Gefangenentransporter geschleppt und eingeschlossen. Sanitäter werden nicht zu ihm durchgelassen.“ Antifa-Prinzessin auf twitter

Besonders schockierend sei die „scheinbare Wahllosigkeit der Polizei“ gewesen. Er habe außerdem mehrmals beobachtet, dass Journalist_innen mit Kameras gezielt mit Pfefferspray angegriffen wurden. Gerüchte über Angriffe durch Neonazis hätten sich als falsch erwiesen – tatsächlich habe es sich bei den Angreifern um Zivilpolizisten gehandelt. Dazu gibt es auch einen Bericht auf zackzack. Eine Studierende der Akademie der bildenden Künste sei brutal von einem Auto gezerrt und verhaftet worden. Dabei sei sie verletzt und die Kameraausrüstung beschädigt worden. Der Lautsprecherwagen der Kundgebung sei mit Pfefferspray angegriffen und ein Infotisch von der Polizei zerstört worden.

Nach ca. einer Stunde sah man sich in der Lage die Kundgebung weiter durchzuführen. Kurz darauf seien von „sehr vielen Polizeikräften“ die Personalien von Kundgebungsteilnehmer_innen aufgenommen worden, „welche vermeintlich den Mindestabstand trotz FFP2“-Masken unterschritten hatten“. Die Fortführung der Kundgebung sei dadurch verunmöglicht worden. Er sei immer wieder von „verschiedenen Einsatzleitern“ dazu gedrängt worden die Kundgebung aufzulösen. Eine Begründung dafür sei ihm nicht mitgeteilt worden. Die Kundgebung sei um 20 Uhr vorzeitig beendet worden. Es seien bereits mehrere Maßnahmenbeschwerden gegen den Einsatz in Arbeit.

„Ich persönlich habe ein derartiges polizeiliches Fehlverhalten und polizeiliches Chaos bisher nur während dem G20-Gipfel in Hamburg beobachtet, den ich damals journalistisch begleitete. Und auch damals stellte sich die politische Führung vorbehaltlos und treudoof hinter eigenmächtige Polizeientscheidungen. Die Eskalation und der genaue zeitliche Ablauf müssen dringend von unabhängiger Stelle aufgeklärt werden. Polizeiliches Fehlverhalten muss klare Konsequenzen haben. Denn gerade beim Gewaltmonopol der Polizei braucht es kritische, objektive und gründliche Kontrolle statt blindem Vertrauen. Es braucht eine unabhängige Beschwerdestelle und Ermittlungsbehörde.“ – Lars Kollros

Traumatisierung der Bevölkerung

Nurten Yilmaz
Nurten Yilmaz, Abgeordnete zum Nationalrat, SPÖ (Foto: Roman Dietinger)

Nurten Yilmaz Abgeordnete zum Nationalrat, Bereichssprecherin für Integration im SPÖ-Parlamentsklub und Mitglied des Innenausschuss des Parlaments betonte am Eingang ihrer Stellungnahme, dass Polizeieinsätze immer verhältnismäßig sein müssen. Seit zwei, drei Jahren komme es „immer mehr“ zu Einsätzen bei denen sie „große Fragezeichen“ sehe. Im Sigmund-Freud-Park haben auch Familien und Kinder gepicknickt. Der 1. Mai sei für die Stadt Wien ein besonderer Tag. Was sie zu sehen bekommen habe, sei erschütternd gewesen. Auch der Innenminister könne nicht wollen, dass Bürgerinnen und Bürger solche Traumata erleben. Sie erwarte sich von Innenminister und Polizeipräsidenten Pürstl, dass auch Demonstrationen am 1. Mai so verhältnismäßig behandelt werden, wie die von „rechtslastigen Covid-Maßnahmen-Gegnern“.

Sie hat eine parlamentarische Anfrage an den Innenminister gestellt, um zu erfahren, wie es zu dieser Eskalation kommen konnte und forderte die Sicherstellung einer konsequenten Aufklärung bei Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamt_innen durch eine eigene Behörde. Diese solle sowohl von Amts wegen ermitteln als auch als Beschwerdestelle für Betroffene fungieren und mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet werden. Dies sei ohnehin Teil des Regierungsprogramms, aber bislang nicht umgesetzt worden. Außerdem sei eine Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen notwendig. Es brauche eine Evaluierung der Polizeischulen und Lehrpläne. Auch das sei versprochen worden.

Die Ausbildung der Polizei sei sehr wichtig. Sie solle so angelegt sein, dass sie für Menschen, die den Job besser nicht machen sollten, auch nicht attraktiv ist. Die Polizei sei auch eine Institution, die die Menschenrechte zu schützen habe. Man sollte das mehr hervorheben  Wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei „zerbröckeln“ würde, werde man ein „wirkliches Problem“ haben. Interne Ermittlungen müssten der Öffentlichkeit transparent präsentiert werden. Jene, die eine friedliche Demonstration stören, müssten „isoliert, neutralisiert und herausgenommen“ werden.

„Statt neuer „mannstoppender“ Munition brauchen wir eine Abrüstung der Polizei. Statt ziviler Tatbeobachter oder gar Provokateure brauchen wir deeskalative Einsatztaktiken. Wir brauchen umgehend eine Kennzeichnungspflicht der Polizei. Polizist_innen sollen sich nicht bewaffnet auf Demonstrationen bewegen. Polizei und Versammlungsbehörde müssen klar getrennt werden. Statt einer Militarisierung der Polizei sollen Mittel verstärkt in Sozialarbeit und soziale Stadtteilprojekte investiert werden. Wie der Bundespräsident vergangene Woche feststellte, gilt die Verfassung für alle Menschen in Österreich – auch für den Finanzminister und auch für die Polizei. Daher unterstützen wir auch die Kampagne Defund the Police.“ – Lars Kollros

Sicherheitsproblem Polizei

Angelika Adensamer
Angelika Adensamer, Sprecher_innenteam LINKS (Foto: Roman Dietinger)

Angelika Adensamer, Juristin und Kriminologin, hielt fest, dass die Polizei keine Sicherheit bringe. Das sei ihre Aufgabe funktioniere aber nicht. Man sehe das bei tagtäglichen grundlosen rassistischen Kontrollen, bei von Gewalt betroffenen Frauen, denen nicht geglaubt wird, wenn sie zur Polizei gehen oder wenn auf Grund von politischen Interessen der Verfassungsschutz nicht arbeitsfähig ist und Anschläge nicht verhindern kann. Man habe das auch am 1. Mai gesehen, wo die Polizei auf unbewaffnete und friedliche Menschen losgegangen ist. Dies sei nicht nur ein Beispiel dafür gewesen, „dass die Polizei keine Sicherheit schafft, sondern auch dafür das sie selbst ein Sicherheitsproblem“ darstelle.

 

„Die Idee mag weiterhin für viele radikal klingen, hat aber allem Anschein nach das Momentum auf ihrer Seite. In Minneapolis stimmte der Stadtrat für die Auflösung der Polizeibehörde. In Seattle überließen die Behörden den Autonomen ihren eigenen Stadtteil. Die dort angesiedelte Polizeistation wurde geschlossen. Die Polizei hält sich fern aus der „Capitol Hill Autonomous Zone“, kurz „Chaz“ genannt. Es gibt eine selbstorganisierte Krankenstation, kostenloses Essen und Kulturangebot. In „Chaz“ wollen Aktivistinnen und Aktivisten nun beweisen, dass ein Leben ohne Polizei nicht nur möglich, sondern für alle Beteiligten sogar sicherer ist.“ – Daniel Dillmann in Frankfurter Rundschau, Ein Leben ohne Polizei: Was hinter dem Slogan „Defund the Police“ steckt

Wenn eine Polizei damit rechnen könne, dass sie straflos bleibt, wenn sie Körperverletzung im Amt begeht, könne so etwas immer wieder passieren. Es sei, als ob die Polizei abseits des Gesetzes stehen würde. Aber das tue sie nicht: Auch Polizeibeamt_innen müssten sich vor Gericht rechtfertigen. Sehr oft passiere das aber nicht und das würden die Beamt_innen wissen, sonst würden sie vor hunderten Augenzeug_innen nicht so vorgehen. Dies sei auch nicht verwunderlich, wen die Polizei gegen die Polizei ermittelt. Sie forderte ebenso eine unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstelle.

Man müsse anders über Sicherheit sprechen. Die Polizei habe „unglaublich viele Aufgaben“ und „immer diese gewaltvollen Mitteln, mit denen sie die Probleme nie lösen wird“. Vermögensungleichheit, Rassismus und soziale Ausgrenzungen müssten als Probleme an der Wurzel angegangen werden. Dafür müssten gesellschaftliche Lösungen gefunden werden. Die Polizei werde in der Lösung dieser Probleme keine Rolle spielen. Die Partei Links fordert die Entwaffnung der Polizei, die Einschränkung ihrer Aufgaben und ihrer finanziellen Ressourcen.

 „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel innerhalb der Polizei und starke Reformen in der Polizei“ – Lars Kollros

“Pürstl muss weg!”

Lena Köhler
Lena Köhler, stellvertretende Bezirksvorsteherin im 8. Bezirk, GRÜNE (Foto: Roman Dietinger)

Lena Köhler hielt fest, dass Polizeigewalt nie verhältnismäßig sei. Am 1. Mai sei es zu „massiver Gewalt“ und „überzogenen Maßnahmen“ gekommen. Sie würde seit Jahren beobachten, wie die Polizei „gerade bei linken Demonstrationen“ vorgeht. So sei sie auch am 1.Mai vor Ort gewesen und habe den Polizeieinsatz beobachtet, gefilmt und miterlebt. Die von der Polizei ausgelöste Massenpanik oder dass eine Person von der Polizei so massiv zu Boden gedrückt wird, dass sie kaum mehr Luft bekommt und ihr dabei auch noch die Nase zugehalten wurde, sei Polizeigewalt. Das könne „auf keiner Ebene ok sein“. Mehrere Demonstrant_innen seien „krankenhausreif“ gewesen.

Die oft kolportierte „3D-Strategie“ (Dialog, Deeskalation, Durchsetzen) sei nicht eingehalten worden – „ganz im Gegenteil“. Bei linken Demos sei das kein Einzelfall. Sie sei auch immer wieder als Beobachterin bei „rechten Coronaleugner_innen-Protesten“. Dabei habe die Polizei schon oft gezeigt, dass sie deeskalierend vorgehen kann. Hier würden doppelte Standards angewendet. Wenn Polizeipräsident Pürstl vor ein paar Monaten davon gesprochen hat, dass er eine große Demonstration nicht auflösen könne, „weil das zu viel Eskalation bedeuten“ würde, dann spreche er von „rechten Demos, aber nicht von den linken“.

Die Polizei habe Versammlungen und das Versammlungsrecht zu schützen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sage klar, dass selbst wenn sich einzelne Personen bei einer Demonstration nicht rechtmäßig verhalten sollten, die Polizei das geringste Mittel einzusetzen habe. Eine gesamte Demonstration mit Schlagstöcken und Pfefferspray anzugreifen und in Panik zu versetzen entspreche dem nicht. Die Polizei habe aber die Demonstration nicht nur angegriffen, sondern durch Zivilbeamte massiv provoziert und die Eskalation hervorgerufen.

Demonstrieren sei eine Art am öffentlichen Diskurs teilzunehmen, und das für viele Menschen, die ansonsten wenige Möglichkeit haben sich einzubringen. Wenn die Polizei so etwas verhindern würde, dann rüttele sie auch an den Grundfesten des bürgerlichen Staates und der Demokratie. Es brauche eine Aufklärung des Einsatzes. Die Grünen haben dazu eine parlamentarische Anfrage eingebracht. Es bedürfe aber außerdem einer „internen und externen Aufarbeitung“ dieses Polizeieinsatzes. Es müsse nach dem Verantwortlichen gesucht werden.

Auch sie forderte eine Kontrolle durch eine unabhängige Meldestelle. Diese dürfe keinesfalls im Innenministerium angesiedelt sein. Das sei vor allem wichtig, weil Betroffene von Polizeigewalt sich heute an die Polizei wenden müssen. Was ihrer Meinung nach ein Widerspruch sei. Eine solche Stelle müsse Betroffene unterstützen, da solche Anzeigen auch oft von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Eine Meldestelle solle ein Sprachrohr für die Betroffenen sein. Polizeieinsätze müssten dokumentiert und Daten zu Polizeimaßnahmen erhoben werden. Nach Demonstrationen werden in Polizeiaussendungen immer nur verletzte Polizist_innen, aber nie verletzte Demonstrant_innen erwähnt. Es sei notwendig solche Daten an einer öffentlichen Stelle zu sammeln. Pressevertreter_innen seien auch dieses Mal oft nicht zugelassen worden die einzelnen Maßnahmen zu dokumentieren. Filmende seien oft sehr brutal verhaftet worden.

Die Demonstration am 1. Mai war sehr groß und hatte sehr viel Aufmerksamkeit. Wenn weniger Öffentlichkeit da ist, bei Abschiebungen, bei Räumungen oder anderem, wenn niemand zusieht, dann passiere Gewalt. Das müsste überall festgehalten werden. Deswegen brauche es eine unabhängige Beobachtung vor Ort. Die Ereignisse des 1. Mai 2021 in Wien müssen Konsequenzen haben. Auf  Frage aus dem Publikum, ob der Rücktritt von Polizeipräsident Pürstl gefordert wird, bemerkte Lena Köhler, dass sie und andere kritische Aktivist_innen dies in den letzten Jahren schon sehr oft gefordert haben. Dies könne man auch in diesem Fall „wieder in den Raum stellen“. Hier sei auch die Wiener Stadtregierung in der Pflicht.

Problematischer Umgang der Medien

Angelika Adensamer kritisierte, dass in offizielle Meldungen über Vorfälle die Polizei meistens von Gewalt der Demonstrierenden spräche. In den Medien würde die Geschichte der Polizei präsentiert. Diese sollten die Polizeiberichte kritischer aufnehmen. Gerade nach solch umstrittenen Vorfällen sei die Polizei keine neutrale Akteurin und würde nicht neutral berichten. Sie habe ein Interesse daran ihre eigenen Beamt_innen zu schützen und das eigene Vorgehen als richtig darzustellen. Dies bedeute nicht, dass diese Berichte in den Medien nicht vorkommen sollten. Sie seien aber eine Seite und „nicht die ganze Story“.

Nurten Yilmaz fügte hinzu, dass man dabei die Zivilbevölkerung nicht unterschätzen sollte. Die Menschen würden sich auch über Soziale Medien austauschen. Die Videos und Fotos gibt es. Das könne man nicht totschweigen.

Rechtsextremismusproblem bei der Polizei

Angelika Adensamer ist sich sicher, dass die Polizei tendenziell rechts ist – das sei auch in vielen anderen Ländern so. Viele in der Polizei haben rechte politische Einstellungen. Skandale haben das auch klarer gezeigt. In diesen Zusammenhang erwähnt sie das „FPÖ und weiter rechts dominierte“ LVT-Wien. Im Detail wisse man aber relativ wenig davon. Man kann nicht in die Polizei hinein schauen. Es gebe hier ein Transparenzproblem.

Blue wall of silence – das ist ein Begriff aus der Polizeiforschung. Er beschreibt das Phänomen, dass es in der Gesamtorganisation Polizei eine Mauer gibt, die trennt „uns Blaue“ von den Zivilisten – das kann der besorgte Bürger sein, ein Mensch mit Migrationshintergrund, ein kritischer Politiker, ein Journalist, wer auch immer. Alles, was ich als Polizist an Fehlern meiner Kolleginnen und Kollegen sehe, halte ich innerhalb der Mauer – und manchmal verschweige ich es sogar gegenüber den Vorgesetzten.“ – Joachim Kersten, Kriminologe und Polizeiausbilder in „Extreme Sicherheit“ Herder 2019

Sie sei trotzdem „recht sicher“, dass es diese rechten politischen Interessen in der Polizei gibt. Augenzeugen haben vom 1. Mai, aber auch von der Demonstration am 8. Mai in Wien, wo eine Demonstration gegen die „Identitären“ am Yppenplatz war, berichtet, dass die Polizei „ganz stark mit politischen Beschimpfungen agiert hat“. Daran sehe man, dass es auch um eine politische Auseinandersetzung gehe, welche die Polizei mit linken Demonstrierenden führt. Das sei absolut unangemessen. Die Polizei könne sich nicht mit der Gewalt und Bewaffnung des Staates hinstellen und Linke beschimpfen, weil sie Linke sind. Daran sehe man, dass die Polizei tendenziell rechts ist oder zumindest ihre rechten Leute auf die linken Demonstrationen schickt.

Männlichkeitsproblem bei der Polizei

Die Polizei habe „ganz bestimmt“ ein Männlichkeitsproblem, meinte Angelika Adensamer. Es sei zwar so, dass in ihr zu viele Männer und zu viele Machos seien, aber auch das sei in ihren Augen ein strukturelles Problem. Das Problem sei eine Kultur, die auf starken Hierarchien beruhe, die sich stark über Uniformierung, physische Kraft und Bewaffnung auszeichne. Das würde auch bestimmte Charaktere anziehen und sei eine Möglichkeit mit Aggression umzugehen und eine Möglichkeit etwas Aggressives und Gewaltvolles darzustellen. Da es militärisch und uniformiert ist, führe es zu diesen Korpsgeist, wo man sagt, man hat einen gemeinsamen äußeren Feind und man muss sich gegen diesen äußeren Feind, der alles außerhalb der Polizei ist, gegenseitig decken.

Darum gebe es auch keine Fehlerkultur, weil wenn jede Zugabe eines Fehlers eine Schwäche ist und immer eine offene Flanke gegen diesen äußeren Feind ist, könne man sich nicht mit den eigenen Unzulänglichkeiten in einer Weise auseinandersetzen, dass es eine positive Veränderung gebe. Das sei nicht nur ein Problem Einzelner in der Polizei, sondern ein strukturelles Problem. Das führe auch dazu, dass eine Änderung von Innen nicht funktioniere, weil die Leute, die anders seien und einen anderen Zugang haben würden, dort nicht bleiben und in diesem Klima diese Arbeit nicht aushalten würden.

“Hingegen trifft es sicherlich zu, dass die Polizei extrem maskulin ist und eine Bastion traditioneller Männlichkeitsvorstellungen. Das war schon bei der Entstehung der Polizei so. Es ist ja kein Zufall, dass es „Schutzmann“ heißt und nicht „Schutzperson“. Der ganze Beruf wird mit traditioneller Männlichkeit assoziiert: die Gewaltausübung, die Uniform, die Waffe. Auch wenn wir inzwischen einen erheblichen Anteil von Frauen in der Polizei haben – in der Sozialisation und in der Berufspraxis werden traditionelle Rollenbilder eher konserviert als infrage gestellt. […] Ich bin überzeugt das Geschlechterbilder in ihrer fossilen, obsoleten Form in der Polizei bis heute stärker sind als in anderen Berufen, die mit Menschen arbeiten.“ – Joachim Kersten, Kriminologe und Polizeiausbilder in „Extreme Sicherheit“ Herder 2019

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